„Ich bin da halt so reingerutscht“ – Levadawanderung zum Grünen Kessel
Heute möchte ich eine weitere sehr persönliche Reiseerfahrung mit euch teilen, nämlich meine Wanderung auf der Levada do Caldeirão Verde. Diese gehört zu den faszinierendsten und für mich bedeutsamsten Unternehmungen, die ich jemals gemacht habe.
Es fing damit an, dass ich an einem Morgen während meines zweiten Urlaubs auf Madeira sehr früh wach war und spontan beschloss, mir auf der Halbinsel Ponta de São Lourenço den Sonnenaufgang anzuschauen und ein paar Fotos zu machen. Danach wollte ich weiter Richtung Queimadas und dort im Park (Lorbeerwald) – so zumindest der ursprüngliche Plan – einfach ein bisschen gechillt spazieren gehen.
Es war ziemlich bewölkt an diesem Morgen, sodass vom Sonnenaufgang nicht allzu viel zu sehen war. Ich war auch nicht die Einzige, die auf die Idee gekommen ist, sich bei Ponta de São Lourenço für ein schönes Sonnenaufgangsmotiv aufzuhalten – es war wirklich voll dort. Ich habe, bevor es weiter nach Queimadas ging, einen kleinen Abstecher zum Praia da Prainha gemacht, einem kleinen Natursandstrand bei Canical und die Ruhe des frühen Morgens genossen.

Parque Florestal das Queimadas
Auf dem Weg nach Queimadas nahm ich ein sehr nettes, rumänisches Tramperpaar mit, welches unterwegs war zu einer Wanderung auf den Pico Ruivo. Sie erzählten mir, dass sie bereits seit einem Monat in Madeira seien (die Glücklichen!) und sich so langsam an die etwas anspruchsvolleren Wanderungen herantasteten. Interessiert fragten sie mich, ob ich unterwegs sei zur Levada do Caldeirão Verde. Ich verneinte dies mit Verweis auf meine miserable körperliche Kondition und meine Unsportlichkeit. Sie lachten herzlich und berichteten mir, dass die Levada do Caldeirão Verde hinsichtlich z.B. der Überwindung von Höhenmetern nicht sonderlich herausfordernd sei, allerdings solle man schon schwindelfrei sein. Damit war das Thema dann ja auch (fast) schon für mich gegessen…
Wir verabschiedeten uns am Parkplatz Queimadas voneinander und ich begann meinen kleinen Spaziergang auf einem gut ausgebauten, breiten und übrigens barrierefreien Wanderweg mit einigen entzückenden Highlights auf dem Weg. Als ich vom Parkplatz aus losging, war es 9:30 Uhr.


Nach einer knappen halben Stunde hatte ich den Park Queimadas erreicht und schlenderte dort ein wenig herum. Dann musste ich natürlich früher oder später dieses Schild entdecken:

Es war ja immer noch früh am Tag. Ich fühlte mich fit, frisch und vielleicht war ich auch ein wenig übermütig – oder besser gesagt, neugierig. Es ist ja nicht so, als hätte ich mich nicht vorab über die Wanderung zum Grünen Kessel informiert gehabt. Der Wanderführer von Rother lag an jedem Morgen aufgeschlagen neben meinem Frühstücksteller und auch ansonsten habe ich sehr viele Informationen über Madeira eingeholt, zum Beispiel mittels Nutzung diverser Facebookgruppen (Einschub: Diverse nützliche Links befinden sich unten im Beitrag!).
Das Ding mit dieser Levada war halt: Ich reiste alleine, und es wurde davor gewarnt, die Levada alleine zu wandern, für gewöhnlich nehme ich solche Warnungen ernst, ich bin kein waschechter Riskseeker, und mit meiner schlechten körperlichen Kondition habe ich Sofaheldin bei dem rumänischen Pärchen alles andere als kokettiert. Trotzdem hatte ich jetzt einfach mal Bock darauf, zumindest mal kurz zu gucken, was sich hinter dieser als besonders spektakulär angepriesenen Wanderung verbarg.
Auf dem Weg
Ich machte mit mir also vor dem Schild stehend folgenden Deal: Sobald meine Kräfte nachlassen sollten, ich an für mich nicht länger einschätzbar oder gar gefährliche Stellen komme, mir unwohl oder schwindlig oder was auch immer wird: Abbruch. So lange gehe ich jetzt mal wandern. Und los ging’s.
Bereits auf den ersten Metern auf der Levada veränderte sich die Landschaft. Es wurde stiller um mich herum. Ursprünglicher. Wilder. Kleine Tiere machten Geräusche im Unterholz, Vögel zwitscherten, und an großen Farmwedeln plätscherte Wasser herab, die Blätter rauschten im Wind – sonst war kein Laut mehr zu hören. Ich fand ein gutes Tempo für mich, was ich – mehr oder weniger – bis zum Ende der Wanderung auch beibehielt. Nicht zu schnell, aber auch nicht unzügig. Dennoch wurde ich von dem ein oder anderen geübten Wandertrüppchen überholt bzw. ließ diese vorbei, um wieder allein laufen zu können. Ich war übrigens nicht die Einzige, die den Weg alleine wanderte – aber mit Sicherheit die mit der beschissensten Ausrüstung. Zwar trug ich gute teure Sportschuhe, mit denen ich trittsicher war und die sich leicht anfühlten, aber ansonsten hatte ich nur eine kleine Wasserflasche in meinem Handtäschchen mit dabei. Da der Weg überwiegend schattig ist, musste ich mich um Sonnenschutz nicht kümmern. Trotz des schattigen Wegs und der feuchten Luft fror ich nicht und hatte meine wetterfeste Jacke um die Taille gebunden.

Die erste Herausforderung lauerte auf mich unsportliches Wesen in Form des einzigen An- und Abstiegs auf der Levada: Hier zuckte ich kurz, denn ich war zwar nach wie vor absolut fit, aber machte mir bereits Gedanken über den Rückweg und behielt mir die Passage kräftetechnisch durchaus im Hinterkopf. Ich ging nach einer kurzen Verschnaufpause weiter und mit jedem Schritt, den ich tat, ging ich mehr und mehr in der Landschaft um mich und der Ruhe und Stille auf. Mein Kopf wurde zusehends auf eine angenehme, fast schon meditative Weise leer und mein Körper fühlte sich beschwingt und voller Fortbewegungsdrang an.
Um ca. 11 Uhr erreichte ich einen traumhaft schönen Wasserfall, an dem ich erneut eine kurze Rast einlegte. Bei dieser stellte ich dann doch fest, dass meine Wasservorräte wirklich sehr knapp bemessen waren. Ich würde mit meinem Wasser haushalten müssen. Bzw. ich überlegte mir sowas Dummes, ob es ungesund wäre, mir Wasser quasi von den ganzen natürlichen Quellen um mich herum zu zapfen (ich hatte nämlich jetzt schon Durst. Und früher in der Eifel tranken wir Kinder auch das Wasser ausm Bach. So!).
Bis zu diesem ersten Wasserfall war der Weg jedenfalls insgesamt absolut machbar und ich wunderte mich etwas, ob das denn so bleiben würde, weil wenn ja, dann konnte ich weder das mit der Herausforderung noch mit der Notwendigkeit der Schwindelfreiheit nachvollziehen. Haha. Ja, Irrtum.

Ich checkte bei der Rast am Wasserfall auf meinem Handy den weiteren Routenverlauf und musste dann tüchtig schlucken, als dieser mir drei Tunnel ankündigte, die noch vor mir lagen. Öhm, wait. Tunnel?! Die hatte ich aus meinen verschiedenen Infoquellen so gar nicht mehr im Gedächtnis gehabt oder schlichtweg verdrängt. Gut, ich hatte ja meinen Deal mit mir selbst – wenn ich mich unwohl fühlte, aus irgendwelchen Gründen, dann: Abbruch. Aber jetzt war ich ja schon ein bisschen gewandert und bisher war alles easy gelaufen. Den Rest des Weges würde ich auch noch schaffen, dachte ich mir halt so. Und vor allem… Die Landschaft um mich herum zog mich mehr und mehr an und sog mich sozusagen in den Grünen Kessel hinein. Ich wollte weiterlaufen! Und tat es dann auch.
Ab dem Wasserfall wurde der Weg schließlich an einigen Passagen deutlich schmaler und nun tauchten auch die ersten Stellen auf, die sowohl sehr schmal, als auch mit Drahtseilen abgesichert waren. Mehr als vorher auf dem Weg musste ich auf meine Schritte, mein Tempo und meine Umgebung achten.
Drei Tunnel auf dem Weg
Und dann stand ich vor Tunnel Nummer eins, und zwar zögernd. Denn vor mir tauchte ein schwarzfinstres Loch auf und ich durchquerte diesen Höllenschlund dann letztlich zunächst auch nur, weil man vom ersten Tunnel aus noch Licht am Ende sieht. Und dann ist man – von einem Moment auf den anderen – wirklich in einer anderen Welt, in der Wildnis. Man blickt einen Abgrund hinunter auf einen Urwald, schaut hoch auf die Hänge gegenüber und sieht keinerlei Anzeichen mehr von menschlicher Zivilisation (Wanderer auf der Levada ausgenommen).
Tunnel Nummer zwei war für mich dann eine mentale und psychische Katastrophe. Der Tunnel zwei ist stockfinster, matschig, rutschig, extrem eng, niedrig (ich messe 1.80m und musste im Kriechgang dadurch) und vor allem gefühlt endlos lang. Während den Minuten des Durchquerens hatte ich nur noch Panikkopfkino vom Feinsten: „Was ist, wenn es ein Erdbeben gibt, was ist, wenn das jetzt einstürzt und du liegst hier, lebendig begraben…, was ist, wenn du jetzt und hier dein Ende findest in diesem pechschwarzen Loch inmitten der Einöde?“ Horror!
Als ich aus dem Tunnel raus war, stand für mich jedoch fest, dass jetzt der gesamte restliche Weg zu Ende beschritten wird. Koste es, was es wolle. Wenn ich mir schon sowas Heftiges antue, dann soll und muss es sich auch gelohnt haben, verdammt nochmal (auch, wenn es sich unterwegs schon hundertfach gelohnt hat, weil Weg ist das Ziel, und so weiter). Jetzt packte mich also der nackte Ehrgeiz. Jetzt wollte ich in den Grünen Kessel.

Into the Wild
Ich war mittlerweile wie eins mit der Landschaft um mich herum geworden, und obwohl gefühlt zum Ziel getrieben innerlich so ruhig, heiter und gelassen wie noch nie in meinem Leben. Hinzu kam ein kaum zu beschreibendes Gefühl von absoluter Freiheit und einem umfassenden Glück des Alleinseins. Jetzt und hier, nur die Natur und ich in dieser, mit ihr verbunden und ein Teil von allem. Das war eine so universelle, kosmische, fast schon spirituelle Erfahrung, die sich schwer in Worte fassen lässt. Auch wenn der Weg immer schwieriger und schmaler wurde, so hatte ich so langsam Vertrauen in meinen Körper, welcher die meiste Arbeit zu erledigen hatte, in meine Trittsicherheit, und daher auch in mich gefasst. Schwindlig wurde mir trotz den Abhängen neben mir übrigens zu keinem Zeitpunkt.
Dann durchquerte ich Tunnel Nummer 3 – auch bäh!!!, wenngleich nicht so schlimm wie Terrortunnel 2 – und erreichte gegen 12.30 Uhr das Ziel. Ich war im Grünen Kessel angekommen.


Im Caldeirão Verde war es rappelvoll und ich machte nur eine kurze Pause, um den Wasserfall und den Grünen Kessel selbst zu bestaunen. Ich wollte nämlich unbedingt wieder los, bevor sich die ganzen Wandergruppen ebenfalls auf den Rückweg begaben. Bis zum Parkplatz lagen jetzt wieder ca. 7,5 km vor mir. Also packte ich es an.
Rückweg
Ich war immer noch körperlich fit und frisch und munter, was mich doch sehr überraschte, aber das war sicherlich auch meinem Hochgefühl, es geschafft zu haben – ich war wirklich den ganzen Weg gelaufen! – geschuldet. Daher gestaltete sich der Rückweg trotz einiger durchaus riskanter Ausweichmanöver zunächst als zügiger als der Hinweg, hatte ich doch aufgrund meines Glücksgefühls den Eindruck, mit jedem Schritt förmlich zu schweben. Ich war echt high!
Die Ausweichmanöver liefen dann so ab, dass man sich auf der recht schmalen Levadakante bei entgegenkommenden Wanderern – die immer mehr wurden, da musste es wohl ein Nest gegeben haben – quasi über der Levada selbst auf einem Bein balancierend an der Wand abstützen musste. Durch diese etlichen Manöver machte sich dann allmählich auch eine erste körperliche Erschöpfung breit.
Im Terrortunnel Nummer zwei, ich werde ihn bis ans Lebensende hassen, passierte es dann. Mit gezückter Handytaschenlampe bahnte ich mir gebückt den Weg durch die Finsternis und zack: ich rutschte aus. Mein Hintern und mein Handy nahmen Bekanntschaft mit Madeiratunnelschlamm. Weiterhin trug ich eine Abschürfung an der Hand davon, den Matsch an der Wunde spülte ich mir ohne großartig zu zögern in der Levada ab, bis auf ein paar blaue Fleckchen blieb ich zum Glück ansonsten unverletzt. Mein Handy leidet bis heute an den Folgen des Sturzes – die Ladebuchse war voller Schlamm, der, zurück im Hotel, mühselig entfernt werden musste, seither kann ich Schnellladen und Kopfhörer benutzen vergessen.
Nach dem ganzen Gekrauchel und Tunnel Nummer drei machte sich nun richtige körperliche Erschöpfung in mir breit. Und mein Wasservorrat ging zuneige. Den allerletzten Schluck sparte ich mir auf für die An- und Abstiegspassage, die noch vor mir lag. An dem Wasserfall machte ich erneut kurze Rast. Langsam murrten meine Füße, aber vor allem schmerzte mein Rücken wegen dieser ungewohnten körperlichen Anstrengung.
Nach der An- und Abstiegspassage war dann auch körperlich schon beinah Game Over. Mir tat alles nur noch weh, vor allem mein Rücken fühlte sich an, als wollte er auf der Stelle durchbrechen, und ich fing an, mich nur noch mit purer Willenskraft weiterzubewegen. Und so erreichte ich den Queimadaspark, wohlwissend, dass ich jetzt noch gut einen, anderthalb Kilometer zum Parkplatz zu laufen hatte. Andere stiegen bereits beim Park in ihre Autos und ich wollte mich echt in dem Moment für meine Spontanaktion verfluchen.
Willenskraft
Ich musste noch mal meine ganze Willenskraft aufbieten, und dann auch noch auf die Cola im Park verzichten, weil sich vor dem Getränkeverkauf eine lange Schlange gebildet hatte. Also weitermarschieren. Nutzte ja alles nix. In meinem Kopf waren nur noch Gedanken wie: „Ab zum Auto, da gibt’s Wasser. Ab zum Hotel, an die Poolbar, da gibt es Cola mit Eiswürfel. Ab auf den Liegestuhl bei mir auf der Terrasse, Beine ausstrecken. Ab in die Badewanne. Ab dafür jetzt!“
Auf dem letzten Kilometer stolperte ich auf dem Weg ein paarmal vor mich hin, so erledigt war ich mittlerweile, und hatte jedes Mal beim Stolpern Angst, mich jetzt gleich mal so richtig auf die Schnauze zu legen. Gedanklich war ich jetzt nur noch auf die herumliegenden Wasserflaschen im Auto reduziert. Der Weg erschien mir länger und länger zu werden, es schien gar kein Ende mehr in Sicht zu sein.
Gegen 15:30 Uhr erreichte ich dann aber endlich, endlich mein Auto und ließ mich mit einem Ächzen der Erleichterung auf den Fahrersitz fallen. Sogleich kippte ich mir eine der kleinen Wasserflaschen auf Ex. Vollkommen k.o. machte ich mich auf den Weg zurück ins Hotel nach Canico. Auch die Fahrtstrecke bewältigte ich letztlich nur mit purer Willenskraft.
Rückblick
Wenig später, als ich gestärkt von einer köstlich kühlen Coke am Pool saß und mich die Nachmittagssonne wärmte, hatte sich die körperliche Erschöpfung in eine der angenehmen Sorte gewandelt. Und mit einem Mal war auch ein absolutes Hochgefühl an Befriedigung da, und ja, auch Stolz: unfassbar? Ich? Ausgerechnet? 15 km einen solchen Weg alleine gewandert?! Ohne zusammenzubrechen unterwegs? Die, die Zuhause keinen unnötigen Schritt unternimmt, deren Wege bestehen aus Sofa – Küche, Sofa – Bad und Sofa -Bett?!?!
Auch im Nachhinein kann ich es oft immer noch nicht fassen und will mich manchmal kneifen. Dieses Erlebnis auf der Levada gehört mit zu den bewegendsten und, ja, Dramatik, für meine gesamte Entwicklung bedeutendsten, die ich je gehabt habe. Ein Kern meiner Persönlichkeit ist, und dessen war ich mir lange nicht bewusst, frei, mutig, und auch ein bisschen wild und risikofreudig zu sein, nicht nur ängstlich, nicht gehemmt, nicht nur träge, nicht lahmarschig, nicht (nur) (körperlich) faul.
Ob ich diese Erfahrung ohne das Reisen gemacht hätte? Ob ich derlei Erkenntnisse über mich und meine Persönlichkeit gewonnen hätte? Ob ich in dem Maße zu mir gefunden hätte? Vertrauen in mich gewonnen hätte, in meine Fähigkeiten, meinen Körper? Ich glaube nicht.
Berühmte letzte Worte
Wenn ich abschließend noch einen guten Rat erteilen darf, aber ohne, dass ausgerechnet von mir der mahnende Zeigefinger kommt. Falls ihr – spontan oder auch nicht – auf eine solche Wanderung geht:
Nehmt verflucht nochmal genug Wasser mit! 😀
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Ein Kommentar zu „Virtual Travelbook (4) – Madeira“